24.01.2016

Die Geschichte des
Aaron Gross.

von Barbara Grell

 

Ein leeres Grab in Altaussee
Mein erster Besuch am Altausseer Friedhof galt eigentlich dem Grab des von mir sehr verehrten Jakob Wassermann, einem der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Zu meinem Erstaunen fand ich neben Wassermanns Grab einen weiteren jüdischen Grabstein mit einer über die Jahre verwitterten hebräischen Inschrift vor. 
Die sinngemäße Übersetzung der Inschrift lautet:
“Hier liegt begraben Aaron Sohn des Daniel Gross aus Tarnów in Polen, eines von unzähligen jüdischen Opfern. Zehn Tage nach seiner Befreiung ließ er sein Leben im Namen von Haschem. Am 4. des Monats Siwan stieg seine Seele in den Himmel auf.“
Dieser Grabstein hat zunächst mein laienhaftes historisches Interesse geweckt, inzwischen ist mir die Erhaltung des Grabes und das Andenken an Aaron Gross zu einer Herzensangelegenheit geworden. Ich konnte ein wenig über den Lebens- und Leidensweg von Aaron Gross recherchieren. Nach dem Einmarsch der deutschen Besatzer in seinen Heimatort Tarnów im September 1939 wurden er, seine Familie und tausende weitere Jüdinnen und Juden in ein Getto gezwungen. Von den ca. 25.000 Jüdinnen und Juden aus Tarnów haben nicht mehr als 400 die nationalsozialistischen Gräuel überlebt. Nachdem das Getto Tarnów aufgelöst wurde, wurde Aaron Gross in das KZ Kraków-Plaszów und von dort weiter nach Mauthausen, Melk und Ebensee verschleppt.

 

 

 

Als das KZ Ebensee am 6. Mai 1945 von der amerikanischen Armee befreit wurde, war Aaron Gross ein zu Tode geschundener Mann. Fotos von befreiten Häftlingen aus Ebensee geben ein Bild von Ausbeutung, Folter, Hunger und Leid, das jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Ein paar Tage nach seiner Befreiung wurde Aaron Gross in das ehemalige Wehrmachtslazarett in Altaussee im heutigen Hotel am See überstellt. Er starb dort kurz darauf, am 14. Mai 1945 an den Folgen der erlittenen Torturen und wurde am 17. Mai 1945 am Altausseer Friedhof begraben. Noch weiß ich nicht, wann und von wem der Grabstein für Aaron Gross gesetzt wurde, aber ich habe bald erfahren, dass seine sterblichen Überreste im Oktober 1960 exhumiert und in die KZ Gedenkstätte Ebensee überstellt wurden.

Es ist also ein leeres Grab, an dem sich am 14. Mai 2015 zum 70. Todestag von Aaron Gross Menschen zusammengefunden haben, um seiner zu gedenken. Mich schmerzt diese Leere. Ich finde es unbeschreiblich tragisch, dass Aaron Gross selbst nach seinem gewaltvollen Tod noch einmal einem „Transport“ ausgesetzt wurde. Zudem ist die Störung seiner Totenruhe ein unwiderruflicher religiöser Tabubruch. Noch grenzenloser empfinde ich diese Leere in ihrer Symbolhaftigkeit für die ewige Kluft, die Millionen ermordeter Menschen hinterlassen haben. 
Meine Trauer um diesen Mann, den ich nie kannte, von dessen Existenz ich erst vor Kurzem erfahren habe, ist angesichts der Grauenhaftigkeit der Shoa, deren Opfer er ist, hilflos. Was mir bleibt, ist sein leeres Grab zu einer Gedenkstätte zu machen und seinen Namen wieder und wieder auszusprechen und niederzuschreiben.
    

 

Fotos: Anna Wexberg-Kubesch

06.11.2015

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