NIEMALS AUFGEBEN.
Eine Gedenk-Reise
von Doris Appel
Er ist in demselben Bezirk Wiens aufgewachsen wie ich, in der unmittelbaren Nähe meiner Wohnung in die Schule gegangen, hat wohl dieselben Parks durchstreift und dieselben Hausflure gekannt. Paul Czaczkes war ein Wiedner Bub, der in der Belvederegasse gelebt und die „Ressel-Realschule“ besucht hat. Heute beherbergt die 160 Jahre alte Schulanlage das BRG Waltergasse und bringt mit ihrem Baumbestand einiges Grün ins Grätzl. Im Schatten dieser Bäume hat vielleicht auch Paul einst gespielt, gerauft, geträumt oder sich versteckt.
Als er nicht einmal 12 Jahr alt war, im April 1938, wurde er aus der 2. Klasse der Ressel-Realschule ausgeschlossen. Er musste wie unzählige andere jüdische Kinder eine sogenannte Sammelschule besuchen, bis schließlich auch dort kein Bleiben mehr für ihn war. Paul Czaczkes, damals 15, seine verwitwete und wiederverheiratete Mutter Anna Rosenfeld und seine jüngere Schwester Anita Rosenfeld wurden im Juni 1942 nach Maly Trostinec deportiert. Und das bedeutete: Sie wurden ermordet. Aus Maly Trostinec gab es kein Entkommen. Zwischen Mai und Oktober 1942 trafen dort insgesamt 16 Züge mit mehr als 15.000 Menschen aus Wien, Theresienstadt, Köln, Berlin und Königsberg ein. Die meisten, an die 10.000 Männer, Frauen und Kinder, kamen aus Wien. Diejenigen von ihnen, die den tagelangen Transport unter unmenschlichen Bedingungen überlebt hatten, wurden sofort nach dem Verlassen der Züge erschossen oder in mobilen Gaswägen erstickt. Das geschah gemäß einer Anordnung des Chefs des nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich. Als „Exekutionsstätte“ wurde ein Wäldchen in einiger Entfernung vom Gut Maly Trostinec, einer ehemaligen Kolchose, ausgewählt. Ein Massengrab im Südosten von Minsk im heutigen Weißrussland. An keinem anderen Ort wurden so viele Jüdinnen und Juden aus Österreich misshandelt, gequält und ihres Lebens beraubt. Kein Grabstein erinnert an sie.
Die Wienerin Waltraud Barton, die selbst ihre dort ermordeten Verwandten Malvine Barton und Rosa, Viktor und Herta Ranzenhofer betrauert, kämpft seit Jahren gegen das Ignorieren dieser Tatsache: „Ohne Grabmal bleiben sie die, zu denen man sie vor über 70 Jahren gemacht hat: Ausgestoßene.“ Ende Mai dieses Jahres hat die Mediatorin und Gründerin des Vereins IM-MER (Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern) die siebente Gedenkreise nach Maly Trostinec durchgeführt, unterstützt vom österreichischen Außenministerium und vom „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“. Menschen aus sechs Nationen sind ihr gefolgt: Sergio aus Chile, Asher und Jerry aus Israel, Eric und Michael aus der Schweiz, Marga aus den Niederlanden, Lynda aus den USA und wir sechs Österreicherinnen und Österreicher: Fiona, Enzo, Laura, Manfred, Waltraud und Doris. Zwischen 17 und 80 Jahre sind wir alt, viele von uns auf den Spuren von Vorfahren und Verwandten, alle im Bewusstsein, dass es eines Erinnerns für die Zukunft bedarf – und dass die Toten ein Recht auf ihre Namen haben. Jeder und jede hat gelbe Namensschilder mit, einzeln und liebevoll laminiert von Waltraud Barton, versehen mit Geburts- und Todesdaten. Paul Czaczkes, Anna Rosenfeld, Anita Rosenfeld, Charlotte Engelberg… Wir halten sie in unseren Armen, wir drücken sie an uns, bevor wir die Schilder zu den schon in den Jahren zuvor angebrachten an die Stämme der Bäume binden, die auf dem großen Grab der Ermordeten stehen. Fritz Meisel, Sophie Spitzer, Siegfried Reiss, Abraham Singer, Chaja Andacht, Berta Andacht… Ja, es ist und es soll eine Andacht hier sein, sagt der 80jährige Jerry aus Israel knapp. Chaja war seine Großmutter.
Am nächsten Tag führt uns eine Trauerfeier an den Rand des ehemaligen Minsker Ghettos. Dort, wo einst der jüdische Friedhof war, erinnern Gedenksteine an die Jüdinnen und Juden, die im November 1941 aus deutschen Städten ins Minsker Ghetto deportiert und später ermordet worden sind. Unsere Jüngsten, 17, 20 und 24 Jahre alt, lehnen einen Kranz an den Stein, den 2009 die Republik Österreich gestiftet hat und entzünden Kerzen. Manche von uns erfahren den Trost der Reflexion und Religion als Rückbesinnung auf einen Grund, aus dem es sich - trotz allem - leben lässt. „Man kann nicht hier sein und gleichgültig bleiben“, ein katholischer, ein russisch-orthodoxer und ein protestantischer Geistlicher teilen ihre Gedanken mit. Rabbi Grigorij Abramovich spricht das jüdische Totengebet, das Kaddisch und ruft damit den Namen Gottes an. „Sein Reich erstehe in eurem Leben in euren Tagen….“ Allein durch seine Anwesenheit schlägt der Rabbiner die Brücke zum lebendigen Judentum der Gegenwart. Die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten hat nicht das letzte Wort. Am Abend ist unsere Reisegruppe in der progressiven jüdischen Gemeinde von Rabbi Abramovich „Cheled Simcha“ zum Fest des Jom Jeruschalaim, des Jerusalem-Tages, eingeladen.
Auch zwei Überlebende aus dem Minsker Ghetto feiern mit. Frida Reisman und Maja Lewina-Krapina waren Kinder, als sie in diversen Verstecken unter unglaublichen Bedingungen überlebten. Die kleine Maja ist mehrere Tage hindurch mit ihren Geschwistern zu jenem Galgen gelaufen, an dem ihre tote Mutter hing. Tief berührende Monumente wie jenes von Elsa Pollack und Leonid Lewin erinnern an das verheerende und vernichtende Treiben der Nationalsozialisten im heutigen Weißrussland. Unsere Reiseführerin und Übersetzerin Tatjana zeigt uns auch diese Stätten; unter anderem die nationale Gedenkstätte Chatyn, die eindrucksvoll bezeugt, dass ganze Dörfer von der deutschen SS ausgelöscht wurden, die Menschen ermordet, die Häuser niedergebrannt.
Doch andere Dörfer und Städtchen stehen noch, die kleinen vielfärbigen Häuser umgeben von Birken und unter blühenden Bäumen, in ihrem Zentrum Kirchen mit goldenen Kuppeln neben alten Synagogengebäuden. Marc Chagalls Bilder, der Maler ist nicht weit entfernt im weißrussischen Witebsk aufgewachsen, erstehen aus dem Gedächtnis und vermischen sich mit der Realität. Wir sind in Mir, in der Kleinstadt, die „Frieden“ - aber auch „Welt“- heißt. Shmuel Oswald Rufeisen hat hier überlebt, weil sich der gebürtige und perfekt Deutsch sprechende jüdische Pole als Volksdeutscher ausgeben konnte. Er arbeitete für die deutsche Polizei und trug die Uniform der Gestapo. Gleichzeitig hielt er Kontakt zu jüdischen Partisanen in den Wäldern, informierte sie über die Pläne der NS-Deutschen und versorgte sie mit Waffen. Als im August 1942 das Ghetto im Schloss Mir liquidiert werden sollte, gelang es Rufeisen, die dortigen Jüdinnen und Juden zu warnen. Auch er selbst floh und konnte sich in einem Nonnenkloster verstecken. Die Erfahrungen, die er dort machte, bewegten ihn, Christ zu werden. Später schloss er sich den Partisanen an. Nach dem Krieg trat Rufeisen in den Karmeliterorden ein und nahm den Ordensnamen Daniel an, weil er wie der Prophet Daniel unversehrt die Löwengrube hatte verlassen können. Pater Daniel Oswald Rufeisen wurde katholischer Priester in Israel und führte seine Gemeinde im Sinne der Jerusalemer Urgemeinde, die die Verbindung zum Judentum nie aufgegeben hatte.
Mit seiner und mit manch anderen Biografien ist die kleine Reisegruppe konfrontiert, die aus verschiedenen Erdteilen und Ländern über eine Wienerin nach Belarus, nach Weißrussland, gefunden hat. In jenes Land also, das als letzte Diktatur Europas bezeichnet wird und in dem auch noch im Jahr 2015 an vielen Orten sowjetischer Geist zu spüren ist. Aber ebenso der Geist des Widerstands gegen das nationalsozialistische Morden. Die so unterschiedlichen und doch in ihrem Interesse und in ihrer Haltung geeinten Reisenden werden auch an Ort und Stelle mit dem Widerstand der Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto in Novogrudok konfrontiert. Durch eine atemberaubende Aktion, einen geheim gehaltenen Tunnelbau, ist es vielen gelungen, dem Tod zu entkommen und sich den Partisanen anzuschließen. Verfilmt wurde der spektakuläre Ausbruch der Unbeugsamen mit Daniel Craig und anderen Hollywood-Stars unter dem Titel „Defiance – Für meine Brüder, die niemals aufgaben“. Nicht nur die Jüngeren unserer Gruppe kennen ihn. Als ich meinem Sohn direkt aus Novogrudok den Film-Link nach London maile, wo er derzeit als Gedenkdiener am London Jewish Cultural Center arbeitet, erfahre ich, dass das LJCC in engem Kontakt mit Jack - Jidel - Kagan steht: jenem Holocaust Survivor, dem einst als Bub trotz im Ghetto amputierter, weil erfrorener, Zehen die Flucht durch den Tunnel gelungen ist.
Bevor der Gedenkdienst Paul-Immanuel nach London geführt hat, ist er im vierten Bezirk Wiens aufgewachsen. Ein Wiedner Bub, dessen Lebensraum sich zwischen Belvedere und Karlsplatz erstreckt hat, der auf die Bäume in den Parks und vor den Schulen geklettert ist und der in alten Hauseingängen gespielt hat. Diese Zeilen wurden auch für ihn und die Kinder, deren Aufwachsen er einmal begleiten wird, geschrieben.
Dr. Doris Appel, leitet die ORF-Radio-Abteilung Religion/en und präsentiert im ORF-Fernsehen die Doku-Leiste kreuzundquer.
Waltraud Barton (Hg.):Maly Trostinec – Das Totenbuch. Den Toten ihre Namen geben (Edition Ausblick)
Waltraud Barton (Hg.): Ermordet in Maly Trostinec. Die österreichischen Opfer der Shoa in Weißrussland (nap)
Brigitte Tschol (Hg.): Erinnern. Die Schicksale der im Jahr 1938 vertriebenen jüdischen Schüler der Ressel-Realschule (Eigenverlag)
POST 41
Berichte aus dem Getto Litzmannstadt.
Ein Gedenkbuch
Im Mandelbaum Verlag ist ein ganz besonderes Buch erschienen. Etwa 5000 jüdische Menschen wurden im Herbst 1941 vom Wiener Aspangbahnhof ins Getto Litzmannstadt in Lódz/Polen deportiert und ermordet. Im Winter 1941/42 schrieben sie zahlreiche Postkarten an Verwandte und Freunde, in denen sie ihre verzweifelte Situation schilderten. Die Karten wurden durch eine Postsperre nie den Empfängern zugestellt. Die Postkarten wurden nach dem Krieg im Staatlichen Archiv Lódz aufbewahrt und jetzt im Rahmen eines interdisziplinären Projekts aufgearbeitet und gemeinsam mit Auszügen aus der Gettochronik und persönlichen Aufzeichnungen zu einem zweisprachigem Gedenkbuch zusammengestellt.
Das Buch ist nicht nur sehr informativ , sondern auch besonders respektvoll aufgebaut. Zahlreiche Abbildungen geben einen Einblick in das Leben und den Alltag im Getto und verdeutlichen die eigentlich unbeschreibbare Situation.
Im Jüdischen Museum Wien ist eine kleine Wanderausstellung mit einigen der Postkarten zu sehen.
POST 41 Berichte aus dem Getto Litzmannstadt. Ein Gedenkbuch
Mandelbaum Verlag, Wien, September 2015